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Litz-Wasserfall Silbertal © Dietmar Denger / Vorarlberg Tourismus
Essay

Alles fließt – Leben in Bewegung

Der Vorarlberger Philosoph Peter Natter macht sich Gedanken über Bewegungen, das Bewegtsein und den Lauf der Dinge

Keine Bewegung!“, das war, neben dem berüchtigten „Hände hoch!“, schon immer die Kapitaldrohung, bekannt, wie es so schön heißt, aus Funk und Fernsehen. Ohne Bewegung geht also gar nichts, aber ohne Ruhe auch nicht. Die Ärmel aufkrempeln, einen Ruck durchs Land gehen lassen oder mittels der Stadion-Welle der Lieblingsmannschaft zeigen, dass wir sie zum Erfolg tragen möchten: Es muss sich etwas tun, es muss etwas los sein, kurz, Bewegung tut not. „Sitz nicht rum, tu was!“, lautet seit je die geläufige Basisformel. Andererseits locken die Stille, die Ruhe, die Auszeit, die Entschleunigung, der Klosterurlaub auf Zeit, die Erhabenheit des (fast) Unzugänglichen im Gebirge, auf den Ozeanen, in den Wüsten. Allzu leicht nämlich gerät die scheinbar unvermeidliche Bewegung in den Sog von Phänomenen wie Geschwindigkeit, Tempo oder Fortschritt, verfällt das notwendige Tun der bloßen Gschaftlhuberei, der nur noch hektischen Betriebsamkeit des Auf-der-Stelle-Tretens.

Ich versuche es fürs Erste mit einer der meditativsten Bewegungen, die ich kenne, mit jener des Pendels, des Uhrenpendels, um genau zu sein. Seine Bewegung ist nur dem zugänglich, der unbewegt bleibt oder dem, der sich einklinkt in den großen Strom der Zeit. Lassen Sie mich pendeln, hin- und herpendeln in diesen Überlegungen zur Bewegung, verehrte LeserInnen; pendeln unter anderem zwischen zwei großen Denkern, also exemplarisch bewegten Bewegern: Albert Camus (1913 – 1960) und Blaise Pascal (1623 – 1662).

Min Weag, Silvretta-Stausee, Montafon (c) Popp Hackner / Vorarlberg Tourismus
Bootshaus Gaissau, Rheindelta (c) Joachim Negwer / Vorarlberg Tourismus

Das zwischen Bodensee und Silvretta gespannte Seil ist ein wunderbares Terrain für die Bewegung, aus der Ruhe entsteht, und für die Ruhe, in der, wie es so schön und richtig heißt, die Kraft zur Bewegung liegt.

Von Camus kennen wir eine überraschende, ja bewegende Einschätzung des Sisyphus, jenes armen Kerls, der zur Bestrafung seines Übermuts von den Göttern dazu verurteilt ist, auf immer und ewig einen Stein den Berg hinaufzuwälzen, ihn hinunterrollen zu lassen, ihm hinterherzugehen und die Übung von Neuem zu beginnen. Wir müssen uns Sisyphus in seiner ewigen Bergauf-Bergab-Bewegung, so fordert der Philosoph, als glücklichen Menschen vorstellen. Aber aufgepasst: Der Glücksfokus des Pechvogels liegt auf der Bergab-Bewegung, wenn er dem von selbst rollenden Stein folgt, und vor allem liegt der Fokus auf der Sinnfreiheit, auf der Unzweckmäßigkeit seines Tuns! Das will uns lehren, nicht zu viel hineinzudeuteln in die Bewegung! Sie ist, was sie ist: die Selbstverständlichkeit des Lebens schlechthin. Sobald sie mit Sinn und Zwecken überfrachtet wird, hört der Spaß auf, vom Glück gar nicht zu reden!

Als Gegenpol stehen (!) wir vor Blaise Pascals Diktum, wonach alles Unglück der Menschen daher kommt, dass sie es nicht schaffen, still und ruhig zu Hause sitzen zu bleiben. Allem oder fast allem Anschein nach hat Pascal recht. Zwischen diesen scheinbaren Gegensätzen wollen wir uns hin- und herbewegen. Platz ist da genug für spannende Bewegung. Apropos spannend: „Der Mensch ist ein Seil, gespannt zwischen Tier und Übermensch“, so hat es Friedrich Nietzsche (1844–1900) formuliert. Er ist einer der Gründer des Bewegungsgedankens. Man ersitzt sich seine Wahrheiten nicht, heißt es bei Nietzsche, dem tüchtigen Engadin-Wanderer, man ergeht sie sich!

Beruht das Glück des Sisyphus darauf, dass etwas los ist in seinem Dasein, so ist letztlich auch das Still­sitzen für Pascal, den Mathematiker, eine Bedingung des Glücks, indem es ermöglicht, die umfassende größere Bewegung der Welt zu realisieren, bzw. sich bewegen zu lassen, Teil zu werden und teilzunehmen an der Bewegung der Welt. Das Tourismusland Vorarlberg könnte ein Eldorado sein für solche Gratwanderungen im wirklichen und im übertragenen Sinn des Wortes. Das zwischen Bodensee und Silvretta gespannte Seil ist ein wunderbares Terrain für die Bewegung, aus der Ruhe entsteht, und für die Ruhe, in der, wie es so schön und richtig heißt, die Kraft zur Bewegung liegt.

Was bedeutet Bewegung in einem Tourismusland wie Vorarlberg? Sie ergibt sich zu einem guten Teil daraus, dass das Land nicht nur ein Tourismusland ist, sondern ein Industrie-, ein Gewerbe-, ein Handwerker- und ein Bauernland; außerdem ein dicht vernetztes, manchmal möchte man fast meinen – und kann es auch hören – ein globalisiertes Ländle, eines, das sich selbst verloren geht, um der Welt zu gehören. Von Exporten ist viel die Rede und von Wissens- oder Daten-Transfer. Bewegung in alle Richtungen ist eine Konstante. Auch die Zahlen müssen immer in Bewegung sein: Nächtigungs- und Beschäftigtenzahlen, Umsatz- und Auslastungszahlen. Immer in Bewegung und immer nach oben, weil mehr besser ist. Dass Mehr und Besser so mir nix, dir nix aneinandergekoppelt werden, gefällt mir nicht.

Lassen Sie mich hin- und herpendeln in diesen Überlegungen zur Bewegung. 

Madrisa Rundtour, geführt Themenwandern zur Kultur, Montafon (c) Montafon Tourismus
Radfahren, Achtalweg, Bregenzerwald (c) Benjamin Schlachter / Bregenzerwald Tourismus GmbH
Am Rheinspitz (c) Joachim Negwer / Vorarlberg Tourismus

Wandern im Montafon

Radfahren im Bregenzerwald

Entspannen am Rheinspitz

Denn wo von Bewegung die Rede ist, kann es nur ein Maß geben, das menschliche. Der Mensch als Maß aller Dinge ist ein ebenso alter wie schwer zu interpretierender Grundsatz der Philosophie. Er kann zur Hybris führen oder zur Selbstaufgabe. Und doch: Die Überschaubarkeit aufzugeben, könnte ein entscheidender Fehler sein, egal von welchem Bereich des privaten oder öffentlichen Lebens wir sprechen. Ein enormer Trumpf der Tourismusregion Vorarlberg liegt in der topografisch-kulturellen Vielfalt bei gleichzeitiger Übersichtlichkeit. Berge, Seen, Städte, Dörfer, Kunst, Muße, Action, Festspiele, Trash und Tradition: Vorarlberg pendelt zwischen vielen Polen, Phänomenen und Punkten. Übersichtlichkeit, das meint Erreichbarkeit in einer Bewegung mit menschlichem Maß. Das Land ist klein genug, um es im Rahmen einer Sommerfrische zu durchwandern; es ist groß genug, um darin auszuruhen.

Hier klingt ein wesentlicher Aspekt der Bewegung an: die Zeit; und mit ihr so dominant gewordene Erscheinungen wie Beschleunigung oder Geschwindigkeit. Dass etwa Autos noch immer mit ihren Beschleunigungswerten („0 – 100 in 3,4 Sekunden“) beworben werden, und nicht viel eher gemessen wird, in welchem Ausmaß sie ihren Benutzern entgegenkommen oder nicht, ist ein böser Anachronismus.

Die Moral von der Geschicht´?
Wenigstens tut sie gut.

Peter Natter

Die Moral von der Geschicht´?
Ob es die braucht? Wenigstens tut sie gut. Was sonst soll eine Moral tun, wenn nicht gut! Irgendwie leben wir doch in einem Land, in dem Bewegung suspekt ist. Warum denn gibt es all die Bewegungsmelder, die noch den harmlosesten nächtlichen Spaziergänger auf Schritt und Tritt ausleuchten, die seine Bewegung ans Licht zerren, als wäre sie schon per se verdächtig? So muss ich zum Schluss eine Lanze brechen für Camus’ Sisyphus wider Pascals Stubenhocker. Eine Lanze für den Bergsteiger Sisyphus, den unentwegten Schutzpatron der vielfach bewegten Menschen, sofern sie sich darein schicken, ihr menschliches Maß zu verwirklichen. Dafür auch haben und brauchen wir Stuben, um aus ihrer Ruhe heraus uns bewegen zu lassen.

Auf der Stelle zu treten, ist keine Bewegung: oder doch! Nicht alles, was, und nicht überall, wo es vorwärtsgeht, ist Bewegung. Fortschritt ist nicht gleich Bewegung. In dem, worauf es ankommt, sagt man, gibt es keinen Fortschritt, aber unglaublich viel Bewegung: in der Kunst, in der Philosophie, im Menschsein, im Leben. Auf geht’s!

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